With photographs by Andreas Rost, text collages by Elske Rosenfeld, notes by Christian Borchert (Source: Deutsche Fotothek Dresden) on the year 1990, and texts by Jan Wenzel. Layout: Wolfgang Schwärzler. Architecture: Diana Felber.
The year 1990, which unfolded as a series of broken or interrupted developments, continues to live on. In winter the central offices of the Stasi were stormed and the Round Table began working on a new democratic constitution. In early March a trustee corporation was created to integrate public property of the former East German state – an abstract concept of collective ownership – into the legal structure of West Germany. On 18 March parliamentary elections were held in the former East Germany. In summer the two German currencies were merged. Preparations were made for reunification, the date for which was set earlier and earlier until 3 October was finally chosen. Two months later the first parliamentary elections for all of newly reunified Germany were held. It would be wrong to believe that any of these events has ever been concluded. The news assigns relevance to a certain number of days. This is also wrong. William Faulkner once claimed, “The past is never dead. It’s not even past.” What we call history is ultimately nothing but the radiological discharges of society. The events of the year 1990 continue to shape the present and will do so for quite some time.
f/stop In Situ looks back at the year 1990. In comparing the years 1989 and 1990 it is remarkable that they have been recorded so differently in the collective memory. Virtually everyone in Germany can recall the events of the fall of 1989, while the year 1990—the lines of development of which were continually being disrupted—often remains unintelligible and incommunicable. Like children who can remember nothing before their third birthday, for many East Germans 1990 seems to be buried. Yet just as the first years of life shape a person’s emotional character, the experiences of 1990—all the hopes, fears, promises of happiness and disappointments – have left their mark on people’s deepest feelings and attitudes.
Anyone who wants to come to terms with the current success of populist movements in eastern Germany must first expose the year 1990. Photography can help us return to the past, as it shows “how reality was. […] It [photography] relentlessly engraves traces of that which was into what we are now and perhaps no longer would like to be. That which we want to free ourselves of comes back to us against our will.” (Didier Eribon)
Mit Fotografien von Andreas Rost, Textcollagen von Elske Rosenfeld,
Notizen aus dem Jahr 1990 von Christian Borchert
(Quelle: Deutsche Fotothek Dresden) und Texten von Jan Wenzel.
Layout: Wolfgang Schwärzler. Architektur: Diana Felber.
Das Jahr 1990, dessen Verlauf sich aus einer Folge abgerissener Entwicklungen zusammensetzt, führt ein Nachleben: Im Winter die Erstürmung der Stasizentralen und die Arbeit an einer neuen, demokratischen Verfassung durch den Runden Tisch. Anfang März die Gründung einer Treuhandgesellschaft, die das Volkseigentum, ein abstraktes „Eigentum aller“, in eine im Westen übliche Rechtsform überführen soll. Volkskammerwahl am 18. März. Währungsunion im Sommer. Die Vorbereitung der Vereinigung, deren Zeithorizont sich mehrfach verkürzt, bis der Termin letztlich auf den 3. Oktober fällt. Und bereits zwei Monate danach die erste Bundestagswahl des wiedervereinigten Deutschland. Ein Irrtum zu glauben, dass irgendeines dieser Ereignisse wirklich abgeschlossen wäre. Nachrichten bemessen Aktualität nach Tagen. Aber das ist falsch. „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, heißt es bei William Faulkner, und das, was wir Geschichte nennen, ist letztlich nichts anderes als die Strahlenkunde der Gesellschaft. Die Ereignisse des Jahres 1990 wirken bis in die Gegenwart und noch weit darüber hinaus.
Für f/stop In Situ nimmt das Festival das Jahr 1990 in den Blick. Vergleicht man die Jahre 1989 und 1990, fällt auf, dass sie in der kollektiven Erinnerung höchst unterschiedlich präsent sind. Jeder kann sich die Ereignisse des Herbstes ’89 ins Gedächtnis rufen, während das Jahr 1990, das in seinen Entwicklungslinien immer wieder abreißt, oft unfassbar bleibt, nicht erzählbar ist. Ähnlich wie Kinder sich an nichts erinnern können, was vor ihrem dritten Lebensjahr geschehen ist, scheint auch das Jahr 1990 für viele Ostdeutsche eine verschüttete Zeit zu sein; und wie die ersten Lebensjahre die emotionale Basis jedes Menschen bilden, haben sich auch die Erfahrungen des Jahres 1990 – all die Hoffnungen, Ängste, Glücksversprechen und Kränkungen – tief in den Gefühlen und Haltungen abgelagert.
Wer sich mit dem Erfolg populistischer Bewegungen in Ostdeutschland auseinandersetzen will, muss das Jahr 1990 freilegen. Fotografie kann bei dieser Rückkehr in die Vergangenheit eine Hilfe sein, denn sie zeigt „das Reale, wie es gewesen ist. […] Unnachgiebig graviert sie [die Fotografie] die Markierungen des Gewesenen in das ein, was wir jetzt sind und vielleicht nicht mehr sein wollen. Gegen unseren Willen kommt zu uns zurück, wovon wir uns losreißen wollten.“ (Didier Eribon)